Predigt zu Karfreitag 2020 von Pfarrer Philipp Pohle (zum Anhören, klicken Sie „hier„, zur Vorlage der Hausandacht)
Liebe Gemeinde, liebe Leser,
Gnade sei mit Euch und Friede von Gott unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus.
Der Predigttext für Karfreitag steht im zweiten Brief des Paulus an die Gemeinde in Korinth 5,19-21:
19 Denn Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung. 20 So sind wir nun Botschafter an Christi statt, denn Gott ermahnt durch uns; so bitten wir nun an Christi statt: Lasst euch versöhnen mit Gott! 21 Denn er hat den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht, auf dass wir in ihm die Gerechtigkeit würden, die vor Gott gilt.
Karfreitag finde ich irgendwie bedrückend. Ernste Gesichter, ernste Lieder, ernste Musik. Kaum Beweglichkeit. Die kirchliche Tradition unterstützt das, indem die Glocken schweigen, die Kerzen ausbleiben. Am Altar hängt Schwarz. Wir schauen auf das Kreuz. Damit auf den Tod. Und meiner Erfahrung nach ist das auch ein Anlass für einen Feiertag, mit dem viele nichts anfangen können. Irgendwie seltsam, irgendwie unverständlich. Und doch einer der wichtigsten Feiertage der Christenheit.
Trotzdem zieht dieser Tag, dieses Ereignis mich an. Er hat eine Faszination. Weil hier das zu gehör kommt, worüber wir uns eher ungern unterhalten, wenn es uns selbst betrifft: Über Leid, Ohnmacht, Sterben – und das obwohl es keine Beerdigung ist.
Ich erinnere mich an die Titel-Schlagzeile einer großen Boulevard-Zeitung. Damals, als 2004 der Tsunami im indischen Ozean über zweihunderttausend Menschenleben forderte. In weißen riesigen Buchstaben auf schwarzem Hintergrund war dort zu lesen: „Wo war Gott?“ Diese Frage höre ich in letzter Zeit weniger laut. Aber sie wird gestellt. Nach einem persönlichen Unglück oder dem Leid anderer. Dann scheint er sehr weit weg zu sein.
Wo war Gott? Heute lesen wir im Predigttext bei Paulus: „Gott war in Christus“. Aha, dort also. Was soll das heißen? Die Antwort will ich versuchen. Ich finde sie im Schrei von Jesus am Kreuz: „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ (Mk 15,34)
Jesus lebt sein Leben ganz unten. Bei den Armen, Kranken, bei den Geächteten Menschen und den offensichtlichen Sündern. Er hat sich nicht vor ihnen gescheut, hat sie gesund, frei, selbstbewusst gemacht. Er hatte keine Notfall-Nummer, keine Waffe in der Jackentasche, keinen Schutzraum. Das berührt und bewegt mich, wenn ich von diesen Begegnungen lese. Immer wieder hat er großen oder sehr großen Ärger auf sich gezogen. Bis ihn ein enger Freund verraten hat, er gefangen, gequält wurde und einsam und verlassen gestorben ist.
Wo war Gott? In Christus, in Jesus von Nazareth. „Gott war in Christus“. Er war da, als Jesus geschlagen, ausgelacht, verraten und enttäuscht wurde. Er war da, als das Kreuz ihn zur Schau gestellt hat. Er war da im Elend von Jesus. Er will es uns beweisen: Ich bin kein Gott der Wolken. Ich bin ein Gott auf der Erde. Damit ist er da, in den dunklen Stunden und Tagen meines Lebens, im finsteren Tal durch das ich auch wandern muss. In Jesus finde ich jemand, der nicht vor Leid und schlechten Nachrichten zurückschreckt. Und Gott war in Christus, auch am Kreuz. Damit zeigt er uns: Ich bin an der Seite von denen, die die Bosheit und Vergänglichkeit dieses Lebens zu spüren bekommen. Auch dann, wenn wir uns verlassen fühlen.
Aber in dem Ruf Jesu am Kreuz, stellt sich Jesus, und damit Gott nicht nur auf und an unsere Seite. In dem Ruf: „Warum“ ist auch die ganze Wut, das ganze Unverständnis, die Hilflosigkeit über das Elend der Welt und meines Lebens enthalten: Warum hast DU mich verlassen!? Es ist ein bitterer Vorwurf. Hättest Du nicht gerade jetzt hier sein müssen, jetzt wo ich Dich am dringendsten brauche?
Damit schleudert Jesus die ganze Bitterkeit, die tiefe Enttäuschung, die Menschen haben können, gegen Gott. Und er spricht es doch noch einmal aus, was manche schon aufgegeben haben, zu rufen oder zu fragen. Oder, weil sie es sich nicht trauen. Wieso jetzt so eine schwere weltweite Krankheit? Wieso, so viele Tote, einsam gestorben, ohne den Beistand ihrer Lieben? Wieso muss ich mein Leben so radikal umstellen? Aber auch die ganz eigene Frage in den anderen Feldern meines Lebens: Warum muss das ausgerechnet mir passieren? Die Trennung, das große oder kleine Missgeschick? Und der Blick über den Tellerrand hinaus: Wieso werden Menschen zum Spielball der Mächtigen gemacht, an der europäischen Außengrenze, in Idlib in den Umerziehungslagern in China? Wieso so viel Elend, so viel Ungerechtigkeit, so viel Sinnlosigkeit, so viel Schuld?
„Warum?“ Es ist auch eine wütende Frage. Nein, wir müssen es nicht hinnehmen, wir müssen uns nicht dran gewöhnen, wir müssen es nicht schönreden oder so tun als, würde es mich nicht berühren. Weil es mich eben doch betroffen machen, wenn ich mir die Zeit dafür nehme und es sacken lasse.
„Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ Hier bäumt sich jemand mit aller Kraft und scheinbar ohnmächtig auf, gegen Alles, was ich neben dem Schönen und Guten leider eben auch höre und erlebe. Er stemmt sich dagegen, weil es doch nicht sein kann, dass Gott wirklich so ein Feigling, so ein Verräter ist, der mich und andere im Stich lässt.
Wo war Gott? Gott war in Christus. Gott in Christus und damit auf der Seite der Menschen, er kämpft mit einem Gott der alles kann und doch nicht die Not abwendet. Gott gegen Gott. Wer wird gewinnen? Oder anders: Wer ist Gott wirklich? Einer, der die Welt in ihrem Kampf aus Siegern und Verlierern sich selbst überlässt oder einer, der hineingeht, der sich zwischen Macht und Ohnmacht, zwischen Opfern und Täter zerreißen lässt? Er ist Letzterer. Er kommt unter die Räder und spürt das Elend von uns Menschen selbst.
Dass Gott in Christus war, soll natürlich uns zeigen, dass Gott trotz allem doch auf unserer Seite steht, dass er gerade meine Not kennt, auch die, von der sonst niemand was weiß und dass sie ihm nicht nur nicht egal ist, sondern dass er sie mit mir miterleidet. Und ja natürlich soll das uns, soll das mich mit Gott versöhnen. „Lasst euch versöhnen mit Gott“, und uns helfen, ihn wieder als einen echten Gesprächspartner zu sehen. Ein Gott, von dem wir wieder was erwarten! Dem wir, trotz aller Fragen wieder etwas zutrauen, mit ihm reden, und ihm darum vertrauen. Dem wir uns aber auch anvertrauen und vor ihm ehrlich werden. Mit dem, was ich selbst dafür kann, dass es anderen nicht gut geht. Wo ich selbst zum Gefühl der Gottverlassenheit dieser Welt beitrage.
Ja, dazu brauchen wir einen Gott, der sich als Vertrauenswürdig erweist. Zu Ostern hören wir dann einen anderen Ruf, ebenfalls tief berührt, aber ein fröhlicher und befreiter Seufzer: „Er – der Jesus vom Kreuz -, er ist auferstanden.“ Gott hat Jesus doch nicht am Kreuz verlassen. „Gott war in Christus.“ Wenn das die Aussicht ist, wenn mein Aufbäumen gegen die großen und kleinen Katastrophen dieser Welt, wenn mein verzweifelt-zorniger Warum-Schrei nicht verhallt sondern erhört wird, kann ich dann nicht zuversichtlich sein – trotz allem?
Und der Friede Gottes, der Größer ist als alle unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.